filed on:
October 30th 2002
 

   
 
   

Allokation von Medien-Zeit

 
 
   
   
   
   
 ]
 

Inhalt

 ]
 ]
 ]
 ]
 ]
 ]
   
 ]
 ]
   
   
   
   
   
   
 
 
]

 

 

 

 

»Es gibt ein großes und doch ganz alltägliches Geheimnis.
Alle Menschen haben daran teil, jeder kennt es,
aber die wenigsten denken je darüber nach.
Die meisten Leute nehmen es einfach so hin und
wundern sich kein bißchen darüber.
Dieses Geheimnis ist die Zeit.«
Michael Ende [1]

1 Das Geheimnis der Medien-Zeit

Eigentlich ist es nicht schwer zu erklären, was Allokation von Medien-Zeit bedeutet. Wie der Umgang mit ‚normaler’ Zeit, ist der Umgang mit Medien-Zeit alltäglich und erscheint somit nicht besonders geheimnisumwittert. Medien-Zeit kann vorerst als eine Teilmenge der einem Individuum zur Verfügung stehenden Gesamtzeit betrachtet werden. Von der Frühstückszeitung, dem Radioprogramm im Auto, dem Handy, Internet und Fax bis zum Kino- oder Fernsehprogramm am Abend treffen Menschen tagtäglich Entscheidungen darüber, ob und mit welchen Medien sie ihre Zeit verbringen. Rein rechnerisch bedeutet dies, dass ein guter Planer 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche bzw. 365 1/4 Tage im Jahr auf eine optimale und effiziente Auswahl von Medienaktivitäten ‚verteilen’ kann. Bereits im Vorfeld sollte ein Mediennutzer demnach Klarheit darüber erlangen, ob er beispielsweise mit Medien kommunizieren, sich durch sie unterhalten lassen oder Informationen erlangen will, um maximale Effizienz aus der Verwendung seiner Zeit zu generieren. Da demnach sowohl die Zeit im Allgemeinen und damit auch die Medien-Zeit im Besondern als eine wertvolle und knappe Ressource betrachtet werden kann, gestaltet sich auch ihre Verwendung unter den ökonomischen Gesichtspunkten der Allokation, was nichts anderes bedeutet, als die optimale Zuordnung knapper Ressourcen auf einen optimalen Verwendungszweck. [2] Und da menschliches Leben zeitlich begrenzt ist, bemühen sich Menschen, mit ihrer Zeit so umzugehen, dass sie nicht das Gefühl haben, sie hätten sie verschwendet. Der Begriff der Medien-Zeit könnte dementsprechend als die Zeit definiert werden, die von Individuen nach einem errechneten Allokationsplan in Medien ‚investiert’ wird.

Wenn Medien-Zeit nicht weiter hinterfragt wird, so reicht es demnach für eine ökonomische Betrachtung der Medien-Zeit aus, die chronometrische Zeit, welche Individuen dem Mediengebrauch zuschreiben, zu messen. [3]

Doch das Geheimnis der Zeit offenbart sich darin, dass Rechnungen, eben nicht immer aufgehen, [4] denn auch wenn nach der Uhr 15 Minuten vergehen, kann diese Viertelstunde wie eine Ewigkeit oder auch nur als ‚Augenblick’ empfunden werden, je nach dem was ein Individuum erlebt. Medien leben von diesen ‚falschen Rechnungen’, die nach dem Maß der Uhr doch aufgehen: Auch wenn beispielsweise ein Kinofilm gleichzeitig Langeweile und Atemlosigkeit generiert, vergehen trotzdem eine feste Anzahl chronometrisch messbarer Minuten.

Medien besitzen demnach mehr zeitliche Eigenschaften, als ihre chronometrische Dauer. Um zu verstehen, wie und warum Medien genutzt werden, muss dieser Zusammenhang zwischen Mediennutzung und Zeit genauer betrachtet werden. Diesen beschrieb Jorge Luis Borges in seiner Metapher der idealen Bibliothek, welche alles potentielle Wissen enthalten würde. [5] Borges zufolge gäbe es nur eine Entität, welche es dem Nutzer der Bibliothek unmöglich macht, all dieses Wissen zu erlangen: Die Zeit. Borges beschreibt ‚seine’ Bibliothek als unbegrenzt und zyklisch, denn wenn „...ein ewiger Wanderer sie in irgendeiner beliebigen Richtung durchmäße, so würde er nach Jahrhunderten feststellen, daß dieselben Bände in derselben Unordnung wiederkehren (die wiederholt eine Ordnung wäre: Die Ordnung).“ [6] DIE Ordnung der Medien ist demnach immer eine zeitliche: Sprache temporalisiert die Abfolge der Laute, Film bringt seine Bilder durch Montage in eine zeitliche Struktur und selbst das Computerprogramm folgt einer festgelegten zeitlichen Folge, nach welcher es seinen Quellcode abarbeitet.

Borges Beschreibung der Bibliothek verweist darüber hinaus auf die komplizierte Struktur der Zeit. Borges Bibliothek ist ein Möbiusband, [7] welches keinen Anfang und kein Ende hat, und dessen einziger Unterschied zwischen Innen und Außen ein zeitlicher ist. [8] Darüber hinaus wird die ‚Zeit an sich’ in Borges Konzeption erst durch Medien wahrnehmbar. Die Wiederkehr der Bücher ist es, welche das Vergehen der Zeit anzeigt. Da Menschen aufgrund ihrer begrenzten Lebensspanne keine „ewigen“ Wanderer sind, bringen sie jedoch eine eigene Ordnung in die Nutzung ihrer ‚medialen Bibliothek’, indem sie ihre Zeit auf verschiedene Medien aufteilen. Das Geheimnis der Medien-Zeit liegt also nicht nur darin verborgen, wie unterschiedlich Individuen Medien-Zeit wahrnehmen, sondern ebenso darin, wie Medien-Zeit den Alltag der Individuen strukturiert und nach welchen Gesichtspunkten Individuen ihre Medien-Zeit organisieren und gestalten.

Auf diesem Verständnis aufbauend ist Medien-Zeit nicht nur eine Maßeinheit, für eine bestimmte Zeit des Tages, sondern sie ist ein komplexes, selbstbezügliches Gefüge. Aus diesem Grund besteht das Anliegen dieser Arbeit darin, die vielfältigen Bezüge der Medien-Zeit zu erläutern und für eine ökonomische Theorie nutzbar zu machen, um so die Grundzüge eines Modells der Allokation von Medien-Zeit zu umreißen und das Geheimnis um die Medien-Zeit zu lüften.

Da es das ‚Schicksal’ des Textes ist, Komplexität linear zu temporalisieren, um verwobene Zusammenhänge darstellen zu können, benötigt diese Arbeit ein Anfang und ein Ende. Zu diesem Zweck wird das Möbiusband, welches im folgenden symbolisch für den Begriff der Zeit steht, aufgeschnitten, seine Vorder- und Rückseite auf dem zweidimensionalen Papier beschrieben und gedanklich schließlich wieder zum dreidimensionalen Möbiusband zusammengefügt, welches im Erfolgsfall nicht mehr nur ein Geheimnis, sondern eine lesbare ‚Landkarte’ der vierten Dimension – der Zeit – der Medien repräsentiert.

Eine umfassende Betrachtung der Einflussfaktoren, im Hinblick auf die Allokation von Medien-Zeit, muss sich in ihrer Vorgehensweise erheblich von ausschließlich quantitativen Zeitallokationsmodellen, der Freizeitsoziologie oder der Werbeträgerforschung unterscheiden, [9] da sich diesen Ansätzen der Einfluss von Medien auf die gesellschaftliche und individuelle Wahrnehmung von Zeit entzieht. [10] Um die Komplexität der Medien-Zeit ökonomisch zu erfassen, wird im folgenden Kapitel 2 zunächst ein grundlegendes Verständnis von Zeit ausgearbeitet und mit dem bisherigen ökonomischen Verständnis kontrastiert, wobei geprüft wird, inwieweit die ökonomische Theorie geeignet ist, das Phänomen der Zeit abzubilden. Ausgerüstet mit diesem Wissen erfolgt in Kapitel 3 eine medienwissenschaftliche Darstellung der, in der Bibliotheksmetapher bereits angedeuteten, vielfältigen Bezüge zwischen Medien und Zeit. Abschließend wird im Kapitel 4 auf der Basis des Erarbeiteten, die Vielfalt der Medien-Zeit in ein ökonomisches Modell der Allokation von Medien-Zeit eingebettet.



[1] Ende, Michael (1973): S. 57
[2] Kuhn, Thomas / Mauer, Andrea (1995): S. 134
[3]  Wie dies die hauptsächlich durch Werbewirkungsfragen getriebene Marktforschung tut und zu Ergebnissen kommt, die Mediennutzung „...weitgehend mit Fernseh- oder Radio-Nutzung gleichsetzen...“ IP-Deutschland (2002): S.24
[4]  Vgl. Ende, Michael (1973) : S. 57 und Eco, Umberto (1988): S. 97-100
[5] Vgl. Borges, Jorge Luis (1986)
[6] Borges, Jorge Luis (1986): S. 63
[7] Das Möbiusband, welches am Anfang dieser Einleitung abgebildet ist, steht für eine, nach dem Physiker und Astronomen August Ferdinand Möbius (1790-1868) benannte Struktur, welche aus einem Streifen besteht, welcher in der Mitte um 180° gedreht und an seinen Enden zu einem geschlossenen Band verbunden ist. Ein angenommener ‚Wanderer’ auf dem Möbiusband würde ohne den Rand zu überqueren von der Innenseite nach Außen gelangen. Vgl. Naica-Loebell, Andrea (2002): [www] und Tholen, Georg Christoph et al. [Hrsg.] (1993): S. 255
[8]  Aus diesem Grund wird das Möbiusband in der vorliegenden Arbeit als das grundlegende Symbol für die Zeit verwandt.
[9]  Die sich ausschließlich auf die Erstellung und Interpretation von zeitlichen Tagesablaufstudien, wie sie im Anhang D für Deutschland dargestellt sind, beschränkt.
[10]  Vgl. Beck, Klaus (1994): S. 175 und Faulstich, Werner / Steininger, Christian (2002): S. 7