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October 30th 2002
 

   
 
   

Allokation von Medien-Zeit

 
 
   
   
   
   
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Inhalt

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»Würde Raserei allein davor bewahren, die Mahlzeit des Nächstcleveren zu werden, dann würden Wüstenspringmäuse den Planeten regieren. Als erster aus dem Startloch sprinten hilft nicht. Man muss auch wissen,
wohin man läuft.«
Wolf Lotter [1]

5  Die Landkarte der Medien-Zeit

Die eingangs erwähnte Schwierigkeit der ökonomischen Betrachtung von Medien-Zeit liegt sicherlich in den komplexen Interdependenzen der vielschichtigen Charakteristika der einzelnen Bezugssysteme Medien und Zeit. Die kategoriale Zeit, über die im Alltag das Leben der Menschen koordiniert wird, ist ein menschengeschaffenes Koordinationsinstrument, welches die Gesellschaft nach abstrakten, evolutorisch entwickelten Uhrzeiteinheiten koordiniert. Medien im vorgestellten Verständnis sind ebenfalls vom Menschen geschaffene Objekte, die jedoch nicht nur der ‚simplen’ Koordination arbeitsteiliger Gesellschaften dienen, sondern grundsätzlich der Verständigung der Individuen untereinander.

Zeit im alltäglichen Sinne war demnach schon immer Medien-Zeit, denn das Wissen um die kategorialen Zeitkonzepte hätte sich ohne mediale Prozesse nicht institutionalisieren können. Zeit war natürlich in ihrer vorkategorialen Eigenschaft der zyklischen Wiederkehr von Tag und Nacht bereits ‚da’ bevor es Menschen gab, doch kategoriale Zeit, wie sie heute wahrgenommen wird und in den Institutionen der Uhrzeit gefangen ist, gibt es erst, seitdem Menschen sich – über Medien – austauschen können, um solch abstrakte Systeme über Generationen hinweg zu erfinden und zu perfektionieren. Damit unterliegt aber auch die alltägliche Koordination der Individuen immer der Wahrnehmung der kategorialen Zeit, welche ihrerseits wiederum den Ausprägungen der jeweiligen medialen Dispositive der Gesellschaft unterliegt.

Medien-Zeit als Gesamtheit der Vielheit ihrer zeitlichen Schichtungen befindet sich demnach in einem ständigen Austausch zwischen innerer Zeit der technischen Vertaktung der Medien – in Bewegungsintervallen, technischen Intervallen, und Übertragungsintervallen – und einer äußeren Medien-Zeit, der Sinnverfertigung des Konsumenten durch individuelle Nutzung der Medien, um Zeit zu strukturieren oder zu relativieren. Im Spannungsfeld dieses Austausches bestehen und entstehen Dispositive, welche sich mittlerweile so stark ausdifferenziert haben, dass sie das komplette Spektrum der menschlichen Zeitwahrnehmung bedienen können: So korrespondiert beispielsweise die beschriebene Serialität mit der vorkategorialen zyklischen Wiederkehr, während die Aktualität die kategorialen Zeitauffassung der Gesellschaft widerspiegelt und die Montage individuelle Zeitwahrnehmungen beim Medienrezipienten auslöst. Durch die permanente Verbesserung der Medien, in Speicherungs-, Darstellungs- und Mobilitätsansprüchen, erhöht sich somit auch die Zeitautonomie des Mediennutzers, da dieser die Medienangebote aufnehmen und neu kombinieren kann, um sie seinen individuellen zeitlichen Bedürfnissen anzupassen. Medien-Zeit ist demnach nicht mehr nur als die in der Einleitung definierten Teilmenge der ‚normalen Zeit’ zu betrachten. Vielmehr ist der Umgang mit Medien immer, ob bewusst oder unbewusst, ein Umgang mit der Zeit in all ihren Erscheinungsformen.

Die Ökonomik stößt im Angesicht dieser Gegebenheiten schnell an ihre theoretischen Grenzen. In ihrer Auseinandersetzung mit der Zeit hatte sie deren ‚Geheimnisse’ stets ausgespart und sich streng an den messbaren Anteil der kategorialen Zeit gehalten, der sich durch das abstrakte System der Uhrzeit 1:1 mit Geld korrelieren ließ. Zwar hat Gary Becker mit seiner Theorie der Allokation von Zeit ein Instrumentarium vorgelegt, welches kategoriale Zeit als homogenes ökonomisches Gut modelliert und an eine monetäre Verwendungsmotivation koppelt. Betrachtet man unter diesen Gesichtspunkten jedoch die Mediennutzung, bewegt sich, wie beschrieben, die neoklassische Betrachtung der Medien-Zeit fast ausschließlich auf der technischen Schicht des Medialen. Erst durch die Erweiterung der Modellannahmen gemäß der Neuen Institutionenökonomik lassen sich die Dispositive der medialen Zeitgestalten als ökonomische Bezugsgrößen etablieren, die zur Bewertung der Allokation von Medien-Zeit herangezogen werden.

Beachtet werden müssen dabei insbesondere die Verschränkung der Entwicklungen von Institutionen über die Zeit und den Entwicklungen von Medien der Zeit: Die Institutionen prägen das kategoriale Bild der Zeit, welches sich in den Medien der Gesellschaft ausdrückt: und diese prägen wiederum, durch deren Nutzung, die Institutionen und damit das kategoriale Bild der Zeit. Dieser reflexive Zusammenhang ist gleichzeitig Motor und Kern der evolutorischen Entwicklung der medialen Zeitinstitutionen. Durch die Integration eines nicht rationalen Nutzermodells, dem homo connectus und der Einbindung sowohl des monetären, als auch des kulturellen und sozialen Budgets, können schließlich auch sprunghafte Phänomene der Mediennutzung erklärt werden, welche der (neo-) klassischen Zeitallokation als ‚irrational’ verschlossen bleiben.

Da sich die Verbindungen der zeitlichen Bezüge mit dem permanenten Innovationsdruck von Medien stetig wandeln, muss sich die Ökonomie damit abfinden, dass es keine statische Karte und kein statisches Modell mehr geben kann, sondern eine im kleineren Maßstab angelegte Landkarte der Medien-Zeit, die sich in einem stetigen Wandel befindet. Viel ist bisher noch nicht auf dieser Karte verzeichnet. Doch die Institutionen der Medien-Zeit sind als Landschaftsmarkierungen eingetragen und die Koordinaten der Individualisierung und Sozialisierung durch Medien-Zeit sowie die Strukturierung und Relativierung von Zeit können als ‚Himmelsrichtungen’ zur Orientierung angegeben werden. Mit diesen Navigationshilfen ist eine Basis für weitere Erkundungen geschaffen. Sowohl spezielle Nutzer oder Nutzergruppen, als auch einzelne Medien können nach den vorgeschlagenen Parametern untersucht werden und somit die weißen Flecken auf der Landkarte Stück für Stück füllen.

Das Geheimnis der Medien-Zeit ist damit in seinen Grundstrukturen gelüftet und vielleicht hilft die vorgeschlagene Navigationshilfe zu erkennen, warum nicht nur zeitsparende Medien sich durchsetzen werden, sondern es für eine ökonomische Wissenschaft, als auch für die Wirtschaft im Allgemeinen, sehr sinnvoll sein kann, sich mit dem kompletten zeitlichen Spektrum auseinander zusetzen, denn Medien können nur dann erfolgreich sein, wenn sie sich mit den zeitlichen Strukturen der Nutzer synchronisieren lassen. Und diese zeitlichen Strukturen bestehen eben nicht nur in der Geschwindigkeit von ‚Zeit ist Geld’, sondern auch in der Muße, dass Zeit medial vermitteltes Wissen und sozialen Kontakt bedeutet.

Schließt man in diesem Sinne wieder die Enden des Möbiusbandes, bleibt festzustellen, dass sich die Landkarte der Medien-Zeit bereits verändert hat, denn nachdem das Möbiusband einmal durchwandert wurde, erscheint der Beginn bereits unter einem anderen Licht, denn: „Eigentlich ist es nicht schwer zu erklären, was Allokation von Medien-Zeit bedeutet.“ 



[1]  Lotter, Wolf (2000): S. 83